Matthias Meyer hat sich als Maler von Landschaften und urbaner Motive, die er ausgehend von fotografischen Momentaufnahmen entwickelt, einen Namen gemacht. Die Eigenart dieser Motive besteht einerseits darin, dass sie Situationen erfassen, die abseits zentraler Distrikte der bereisten Orte und ihrer Sehenswürdigkeiten liegen und architektonische und landschaftliche Konstellationen in Randbezirken darstellen, die zwar typisch für die thematisierte Örtlichkeit sind, aber – weil unspektakulär – dort oder an anderer Stelle angetroffen ähnlich werden könnten. Indes gelingt es ihm durch seine malerische Strategie, nämlich dadurch, dass er realitätsnahen, statischen Partien solche Abschnitte beigesellt, die sich durch eine von gestisch-abstrakten Formulierungen forcierte, vibrierende Dynamik abheben und das Sujet im Verlauf des Arbeitsprozesses in einer Weise verfremden, dass es in seiner Gesamtheit eine entschiedene Veränderung erfährt. Auch dem Betrachter vertraute Topographien wandeln sich aufgrund dieser absichtsvollen Störungen zu ungesehenen Szenerien. Meyers malerische Eingriffe bewirken – verstärkt dadurch, dass die dem Bild zugrunde liegenden Fotografien und Video-Stills häufig während des Vorbeifahrens aufgenommen sind – den Eindruck, einen flüchtigen, nicht wiederholbaren Augenblick zu erleben.
In einer Folge von Gemälden und begleitenden Studien beschäftigt sich Matthias Meyer in jüngster Zeit mit einem Thema anderer Art. Beeindruckt von fotografischem Dokumentationsmaterial konzentrierte sich sein Interesse auf die malerische Umsetzung von Bildern des weltweit größten hinduistischen Festes, der Maha Kumbh Mela, bei der sich Millionen von Menschen versammeln, um gemeinsam am Zusammenfluss des Ganges, des Yamuna und des unterirdischen mythischen Saraswati-Flusses rituelle Waschungen vorzunehmen, bzw. reinigende und sie der Erlösung näher bringende Bäder zu nehmen. Der Wunsch, sich dieser Prozedur zu unterziehen überwiegt alle Widrigkeiten wie die beschwerliche Pilgerreise durch den Subkontinent, eine zwangsläufig provisorische Infrastruktur und die berechtigte Furcht vor den Folgen der giftigen Verschmutzung des heiligen Flusses, die auch aus diesem Anlass zugeführtes Frischwasser nicht zu lindern vermag. Die Gläubigen teilen die Hoffnung, dass je größer die Anstrengungen sind, denen man sich unterzieht, umso mehr Wünsche in Erfüllung gehen werden. „Glaube“, schrieb Reinhard Raffalt, sei „in diesem Land stets vermischt mit einer Art mystischer Erfahrung, die für den Hindu Beweiskraft hat. Im Hinduismus ist der Glaube kein Akt, sondern eine Potenz.“
Von Chronisten seit dem 7. Jahrhundert erwähnt, findet das Maha Kumbh Mela-Fest – das rotierend auch an drei weiteren Plätzen ausgerichtet wird – in Prayag in Uttar Pradesh, dem ehemaligen Allahabad, statt, und zwar entsprechend den die kosmische Ordnung spiegelnden Regeln der indischen Astrologie alle 144 Jahre im Wintermonat Magh, wenn Jupiter im Widder oder im Stier steht und Sonne und Mond sich im Steinbock treffen; die als besonders günstig eingeschätzten Badetage während dieser Konstellation richten sich nach dem Stand des Mondes. Als wesentliches Moment der Reise nicht nur für die Gläubigen, sondern auch für die Schaulustigen gilt der Darshan, die Begegnung mit in großer Zahl angereisten heiligen Männern, Swamis, Gurus oder asketischen, meditierenden Sadhus, von denen einige Gruppen nackt und mit Asche eingerieben sind und deren Berührung gesucht wird. Die Legende, die dem „Fest des Kruges“ zugrunde liegt, soll, obwohl sie die Gemälde Matthias Meyers nur mittelbar betrifft, ansatzweise referiert werden: Sie berichtet von archetypischen Begebenheiten, einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Göttern und Dämonen, während der Indra, der Gott des Krieges und der Fruchtbarkeit – und damit des Wohlergehens – zeitweilig seiner Macht verlustig ging. Am Anfang der Zeit quirlten Götter und Dämonen gemeinsam den Milchozean mit Hilfe des Berges Mandara als Stock und eines Schlangenkönigs, der als Seil diente, um Amrita, den Nektar der Unsterblichkeit zu gewinnen. Von Dhanwantari, dem Arzt der Götter wurde er vom Grunde des Meeres in einem Krug an die Oberfläche gebracht; es entwickelte sich ein mit Mitteln des Krieges – in den Vishnu, der Bewahrer des Universums, mit magischer Kraft selbst eingriff – und der erotischen Verführung betriebene Streit um den Trank, in dessen Verlauf einige Tropfen auf die Erde fielen, an jene Stellen nämlich, an denen bis heute Kumbh Melas gefeiert werden. Der Zwölfer-Rhythmus, der die zeitliche Abfolge solcher Feierlichkeiten bestimmt, folgt dem mythischen Wissen, dass es zwölf Tage waren, in denen gekämpft wurde, die Götter ebenso lange auf der Erde weilten und zwölf Tage der Götter ebenso vielen Lebensjahren eines Menschen entsprechen; schließlich dauert ein Umlauf des Jupiters zwölf Jahre.
Der jahrmarktartige Charakter solcher festlichen Zusammenkünfte korrespondiert mit imponierend-pompösen Prozessionen und der Praktizierung spiritueller Rituale, zu denen der Gläubige angehalten ist und die die natürliche und soziale Ordnung „symbolisch reflektieren […] Diese ‚Hilfeleistung’ wird in diesem und einem künftigen Leben belohnt; Tod und Wiedergeburt sind unausweichlich, aber der Einzelne kann sich ein gutes Leben durch Wohlverhalten innerhalb der gegebenen Ordnung sichern.“ Die Luft erfüllt der Duft von Räucherstäbchen und farbenprächtige Blumenarrangements zieren die Altäre. Die grell-bunten Saris und Banner, die die Pilger, die in Warteschlangen am Ufer harren, schwingen, steigern die suggestive Attraktivität des Vorganges, dessen Vitalität sich Matthias Meyer zwar nicht verschließt, die er jedoch getreu seinen an anderen Motiven erprobten malerischen Prinzipien relativiert. Er hat Distanz zum Geschehen, einmal weil – anders als bei bisher genutzten Vorlagen – die Aufnahmen nicht von ihm selbst stammen, als auch weil ihm als Europäer keine religiösen Schranken den Weg verstellen. In der postmodernen indischen Kunst fehlt es zwar nicht an metaphorischen Hinweisen und Zitaten, die traditionelle soziale und mythische Symbolik inkludieren, ohne aber dass die Malerei sich auf den von ihm behandelten Themenkomplex eingelassen hätte.
Meyers ganze Aufmerksamkeit gilt einem Menschengewimmel, in dem Objekte und Personen keine eigene Existenz haben und die er miteinander zu einem Gespinst verschmelzen lässt, dessen Details sich kompromisslos einem von ihm konstruierten, feinnervigen Bildsystem unterordnen müssen, dessen Linien die Körper der Menschen und kaskadenartig senkrecht ablaufende Farbrinnsale bilden. Dieser Eindruck wird dadurch intensiviert, dass der Maler auf eine partielle Fokussierung verzichtet und so das Gewoge und die Konzentration der Menge als rhythmische Bewegung auf der den fotografischen Vorlagen geschuldeten horizontalen, scheinbar willkürlich begrenzten Fläche zum vorherrschenden Motiv werden. Freilich erweisen sie sich als gültige Metaphern des Ereignisses, obschon das Dokumentarische zugunsten des Malerischen zurücktritt. In einem Bericht über religiöse Feste und die sie begleitenden Pilgerzüge heißt es: „Am intensivsten und eindringlichsten verdichtet sich Indien dort, wo sich Religion und Masse verbinden. […] Es zwingt uns immer wieder, unsere Gefühle zu prüfen. Seine konstitutiven Elemente sind Religion und Masse: Wir werden nie aus dem Bewusstsein der menschlichen Hinfälligkeit entlassen und wir entkommen keinesfalls der Masse. Die Inder leben in der Masse und sie leiden an ihrer Masse.“ Matthias Meyer sieht das Individuum abhanden kommen, „die Menschen bilden ein Meer, verschwimmen mit dem Wasser, in dem sie baden.“ Meyer fühlt sich an Schlachtengemälde, bei denen die Menschenwogen aufeinanderprallen, und apokalyptische Szenarien erinnert.
Einer unsichtbaren Regie folgend, zum Wasser des Flusses drängende und in ihm watende Menschen, vielmehr ihre vom Maler angedeuteten kleinteiligen, vage konturierten Silhouetten, bewegen sich in einem undefinierten, grenzenlosen Raum – lediglich sparsam eingefügte architektonische Elemente erlauben Orientierung –, der den Betrachter wie ein strudelnder (Mal)strom erfasst. Im Zusammenwirken jener knappen, feingliedrigen, mit Empfindung für die Nuance gesetzten Chiffren, die für Figuren und ihre Reflexe im Wasser stehen, entwickeln sich abstrakt-impressionistische Trugbilder, sensualistisch und doch klar durchstrukturiert als – wie Ernst Ludwig Kirchner bezogen auf eigene Bilder ganz anderer Art schrieb – „selbstständige Organismen aus Linien, Flächen und Farben, die Naturformen nur soweit enthalten, als sie zum Verständnis nötig sind.“ Matthias Meyers frische Acrylszizzen, bei denen er die materielle Komponente der Farbe – ihre Dünnflüssigkeit oder Schwere – herausstellt, machen deutlich, inwieweit das Spiel der Farben und Zeichen sich vom Gegenstand entfernt hat, einen Schwebezustand andeutet und sich – beinahe – als Akkumulationen von Flecken, Strichen und erhabene Schlieren zu gänzlich abstrakten Formulierungen fügt. In ihnen manifestiert sich Lust am Malakt ebenso wie eine wachsende mentale Befreiung von der fotografischen Vorlage, deren Entwicklung der Beschauer nachzuempfinden vermag.
Wasser ist als dumpfe Brühe ohne „alberne Durchsichtigkeit, ohne verlogene Glanzlichter“ gegeben, seine Begrenzung zu Ufer und Himmel undeutlich gehalten. Verschleifungen von Malgrund und malerischen Notaten irritieren und unterstreichen Mehrdeutigkeit der Darstellung. Horizontal angelegte Reihungen und ausbalancierte Schrägen und Winkel gliedern die Bildordnung – wobei sämtliche Abschnitte und Ebenen gleichwertig behandelt werden – und präzis im Sinne der Komposition positionierte leuchtende Farbflecke und -schlieren unterbrechen das insgesamt gedeckte, vielfach abgestufte Kolorit, dessen Geschlossenheit eine dunstige und indifferente Atmosphäre erzeugt und zu dem die hellen Tonwerte in heftigem Kontrast stehen. Farb- und Raumwerte entsprechen einander.
Matthias Meyers Blick ist der des Fremden auf ein exotisches Schauspiel, das ihn in ebensolcher Weise fasziniert wie jene Kupferstecher, deren von Expeditionsberichten evozierte Fantasie die Wunderwelt Indiens seit dem 16. Jahrhundert erregte und deren Repertoire sich im Besonderen auf die – mitunter fantastische oder idealisierende – Darstellung von Zeremonien kapriziert, wobei Zeichnungen und indische Miniaturen als Vorbilder dienten. Auch bedeutende Forscher-Fotografen haben bereits im 19. Jahrhundert die alle Sinne stimulierende Prachtentfaltung derartiger kultureller Höhepunkte dokumentiert und bewahrt – allerdings mit der Intention, wahrheitsgetreue Abbilder zu schaffen. Meyer dagegen unterwirft das Geschehen während der Maha Kumbh Mela seinem individuellen Blick und ergreift die Gelegenheit, ein ihm attraktiv erscheinendes Thema mit Hilfe über Jahre erarbeiteter stilistischer Mittel im Sinne seiner Bildvorstellung derart zu verwandeln, dass neuartige Schöpfungen entstehen, bei denen sich Lichtbild und innovative freie Malerei durchdringen.