Jürgen Schilling im Gespräch mit Matthias Meyer

Jürgen Schilling: Sie studierten zu Beginn der 1990er Jahre an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Gerhard Richter. Inwieweit hat sich dessen Schaffen, z. B. die von ihm praktizierte gleichrangige und parallel verlaufende Vereinnahmung figurativer und abstrakter Elemente, auf Ihre Malerei ausgewirkt?

Matthias Meyer: Ich glaube, bei Gerhard Richter hatte das Ganze noch einen anderen Hintergrund. Sein Ansatz war konzeptioneller, Richter unterschied zwischen Abstraktion und Figuration, hat aber gleichzeitig thematisiert, dass es da eigentlich keinen Unterschied gibt. Das ist inzwischen bekannt. Wenn ich also von Abstraktion oder Figuration rede, meine ich damit verschiedene malerische Ausdrucksformen, die jederzeit ihre Bedeutung austauschen können. Es ist also für mich auch immer eine willkommene Entwicklung während des Malprozesses gewesen, eine figurative Vorlage bis hin zur Andeutung zu entfremden und teilweise sogar zu etwas völlig anderem umzugestalten. Richter selbst hat diese Vorgehensweise während meines Studiums nicht immer gut geheißen und es hat ihm auch scheinbar mehr daran gelegen, mir die Grundzüge der Malerei generell beizubringen.

JS: Gerhard Richter gilt als ein Lehrer, der einerseits seine Schüler/-innen − seinen eigenen perfektionistischen Vorstellung entsprechend − anhielt, sich zeichnerische und malerische Techniken akribisch anzueignen, und andererseits den Weg seiner Absolventen auch nach ihrem Ausscheiden aus der Akademie mit großem Interesse verfolgt. Sie setzten nach einem Aufenthalt in London am Chelsea College of Art and Design Ihr Studium in der Klasse des inzwischen verstorbenen Dieter Krieg in Düsseldorf fort. Wie unterschieden sich deren Lehrmethoden und welche Schlüsse zogen Sie daraus für Ihr eigenes Tun?

MM: Tatsächlich hat uns Gerhard Richter zu Beginn des Studiums zunächst einmal mobile Paletten bauen lassen, um uns das Malen zu erleichtern. Auch hat er mir gerne dabei geholfen, Stillleben zu zeichnen und hat diese auch selbst korrigiert. Leider habe ich von diesen Exemplaren keines mehr, schon gar nicht ein signiertes. Die klassische Malausbildung war bei ihm aber auch kein Muss; in der Regel hat Herr Richter sich nur mit den Bildern auseinandergesetzt, die ihm seine Studenten vorgelegt haben, egal, worum es sich handelte. Insgesamt hatte ich den Eindruck, bei Richter sehr gut aufgehoben zu sein und von seiner Vermittlung malerischer Grundlagen zu profitieren. Am Chelsea College in London später war es allerdings auch spannend, ein anderes Ausbildungssystem kennenzulernen, das insgesamt weniger akademisch war und nicht von einem solch engen Schüler-Lehrer-Verhältnis geprägt wurde. Tatsächlich konnte ich meine Arbeit verschiedensten Gastdozenten zeigen und mir äußerst kontroverse Ansichten anhören. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland hatte ich dann doch Schwierigkeiten, mich wieder an das klassische Lehrmodell der Kunstakademie Düsseldorf zu gewöhnen, auch wenn das Verhältnis zwischen Dieter Krieg und seinen Schülern insgesamt sehr offen war. Interessanterweise waren hier allerdings die malerischen Ansätze der Schüler mit denen des Lehrers stärker verbunden, als ich es aus der Richter-Klasse kannte. Ich hatte zu dieser Zeit allerdings mein Studium fast beendet und wollte mich vielleicht nicht mehr so stark in diese Klasse einbinden, habe mir dann auch relativ schnell ein eigenes Atelier gesucht. Profitiert habe ich aber in jedem Fall von den beeindruckenden Formaten und dem großzügigen Umgang mit Lasuren in der Klasse von Dieter Krieg.

JS: Durchblättert man Ihre ersten Ausstellungskataloge, stößt man auf Bildmotive, Stadtlandschaften vor allem, die − wie der Maler und Autor Sven Drühl 1999 schrieb − „in der Gegenwart häufig diskutiert, z. T. als anachronistisch verortet und polemisch in Frage gestellt wurden.“[1] Wie vollzog sich Ihre Hinwendung zu diesen Sujets und welches Resultat versprachen Sie sich davon, im Vorüberfahren aufgenommene Momentaufnahmen von wenig spektakulären Bauwerken und Naturausschnitten in den Niederlanden, in Asien oder den USA auszuwählen und abzubilden?

MM: Also, ich bin auf jeden Fall viel unterwegs gewesen, gerade zu Beginn meines Studiums, und habe in meiner näheren Umgebung nach allen möglichen Motiven gesucht, die ich zeichnerisch umsetzen konnte. Ich hatte einfach immer einen Zeichenblock unter dem Arm und habe alle möglichen Objekte, z. B. Stromkästen, Tanksäulen und Straßenbahntüren grob skizziert. Schon hier ging es mir weniger um eine realistische Wiedergabe dieser Objekte, sondern darum, diesen individuelles ‚Leben‘ einzuhauchen. So habe ich beispielsweise eine Dampfwalze fast wie einen Beichtstuhl zentralistisch mitten im Bild positioniert. Die Banalität der Motive war mir infolgedessen relativ egal. Bei meinen späteren Arbeiten habe ich anstelle der Zeichnungen Momentaufnahmen von Videofilmen als ‚Vorlagen‘ für spätere Gemälde benutzt. Auch hier war es nicht wichtig, was auf den einzelnen Filmstills zu sehen war, ob dies prominent genug war. Es ging mir lediglich um den formalen Aufbau des Motivs. Das war für mich von Interesse. Trotzdem bin ich gerne auch in anderen Ländern unterwegs gewesen, weil sich beispielsweise der Eindruck einer niederländischen Landschaft im Allgemeinen völlig von der farbenfrohen Natur Asiens oder dem Bretterbudencharme alter amerikanischer Stadtrandviertel unterscheidet.

JS: Dem Betrachter vertraute Topografien wandeln sich in Ihren Arbeiten aufgrund absichtsvoller Störungen, das Herausarbeiten gewisser Lichteffekte, Verwischen und Überarbeiten mit farbigen Flecken und Farbrinnsalen in ungesehene Szenerien. Welches Gewicht messen Sie diesen radikalen Verfremdungen im Bildgeschehen zu?

MM: Was mich an einem Bild interessiert, ist insbesondere seine Erinnerungsfunktion. Wenn ich mich an etwas erinnere, habe ich ein Bild im Kopf. Dieses Bild hat mit einer Fotografie nicht viel zu tun. Ich habe zwar eine klare Vorstellung, doch wäre es unmöglich, diese in ein fotografisches Abbild umzuwandeln. Vielmehr erscheint mir dieses Bild wie eine Verflechtung verschiedener Bilder. Die Farbrinnsale oder die Auflösungen in meinen Arbeiten stehen für die Bildfragmente der Erinnerung. Allerdings hab ich natürlich kein Interesse daran, ein Bild entstehen zu lassen, das mit seinem Ausgangsmotiv überhaupt nichts mehr zu tun hat. Deswegen wäre es auch schwierig für mich, mit den Verläufen von Farbflächen und Linien im Bild zu beginnen, ohne eine gegenständliche Vorlage im Kopf zu haben.

JS: Von Ihnen ins Bild gesetzte architektonische und ortstypische Motive aus aller Welt suggerieren, dass Sie das zugrunde liegende Material vor allem auf Ihren Reisen entdecken. Wie vollzieht sich der Prozess der Bildfindung?

MM: Auf meinen Reisen suche ich zwar meistens nach bestimmten Themen, die mich gerade interessieren, z. B. Schaufensterscheiben oder Holztreppenhäuser, und mache von diesen jede Menge Fotos. Interessanterweise bleibe ich aber dann meistens an Fotos hängen, die ich zwischendurch gemacht habe. Ich kann meine Motivauswahl also nur bedingt steuern und lasse mich gerne von einer fremden Umgebung überraschen und inspirieren. Die eigentliche Bildauswahl nach einer Reise findet dann auch immer erst zu Hause statt, wenn ich einen Stapel von Fotos vor mir liegen habe.

JS: Seit der Jahrtausendwende stieg das Interesse an figurativer Malerei in hohem Maße. Junge Künstler aus Leipzig, Dresden, Hamburg, Berlin und Düsseldorf formulierten eigenwillige neue Bildwelten, deren individuelle Themen sich zwar jeweils deutlich voneinander abgrenzen, jedoch zumeist ein starkes Interesse am Erzählerischen gemein haben. Wie würden Sie Ihren Standpunkt in der aktuellen Malereiszene definieren und in welcher Weise setzen Sie sich mit anderen Protagonisten heutiger Malerei auseinander?

MM: Ich weiß natürlich schon, was um mich herum passiert. Aber ich bin nicht so sehr in das Schaffen meiner Künstlerkollegen eingetaucht, um mich intensiv damit auseinandersetzen zu können. Vielleicht liegt es auch an meiner Inselposition im Ruhrgebiet und eher seltenen Besuchen in anderen Ateliers, dass ich relativ unabhängig von figurativen Strömungen um mich herum arbeite. Ich wohne gewissermaßen in der Provinz. Es wirkt auf mich eher ein wenig abschreckend, durch große Atelierkomplexe beispielsweise in Dresden oder Berlin zu laufen und das Treiben dort zu beobachten. Ich sehe mich mehr geprägt von der Situation vor der Jahrtausendwende, den frühen 1990ern, als die Kunstwelt, was figurative Malerei anbetrifft, noch etwas überschaubarer war. Ich fühle mich wohl eher früheren Malerkollegen verbunden, mit denen ich teilweise zusammen studiert habe bzw. die ich während meiner Auslandsprojekte getroffen habe.

JS: Können Sie Namen von Malern aus der älteren oder jüngeren Kunstgeschichte nennen, die Sie auf die eine oder andere Art beeindruckt und eventuell auch beeinflusst haben?

MM: Interessante Frage. Ich zähle jetzt einfach mal einige Favoriten auf: William Turner, Jan Breughel der Ältere, Peter Paul Rubens, Claude Monet, Edvard Munch, Peter Doig, Ilja Repin, Neo Rauch, David Hockney und natürlich auch Gerhard Richter. Dann die Skizzen von Camille Corot. Außerdem schätze ich die Arbeit meines englischen Kollegen Jim Harris, mit dem zusammen ich schon in Amsterdam unter freiem Himmel gemalt habe, und die Bilder von Robert Klümpen.

JS: Sie bedienen sich – wie die meisten Maler/-innen Ihrer Generation – bei der Vorbereitung Ihrer Werke der Fotografie und modifizieren diese Vorlagen mithilfe zweckdienlicher Computerprogramme; können Sie uns Ihr Vorgehen auf dem Weg zum endgültigen Gemälde beschreiben?

MM: Ich modifiziere meine fotografischen Vorlagen höchstens dadurch, dass ich sie in etwas größere Zeichnungen integriere oder mehrere Fotografien zu einer Art Collage zusammenstelle. Aber in der Regel nehme ich das Foto oder einen Ausschnitt davon, um anschließend farbige Acrylskizzen des Motivs anzufertigen. Daran kann ich manchmal schon erkennen, ob es sich überhaupt lohnt, das Thema weiterzuverfolgen. Nach diesen Vorarbeiten fange ich mit dem eigentlichen Gemälde an, wobei ich ohne Vorzeichnungen und Rasteraufteilungen direkt die Farbe auf die Leinwand auftrage. Diese Vorgehensweise hat den Reiz des direkt Umgesetzten, Skizzenhaften, kann aber auch fürchterlich in die Hose gehen.

JS: Es sind vorzugsweise lose Bildfolgen, die Ihr Atelier verlassen. Diese Serien, etwa Waterplants, Forests, Waterfalls oder Interieurs entstehen nicht immer in unmittelbarer Abfolge, vielmehr greifen Sie einmal gefundene Themen im Laufe von Jahren unter wechselnden stilistischen Vorzeichen erneut auf. Wie erklärt sich diese Treue zum Motiv? Steckt dahinter das Konzept, Wandlungen in der künstlerischen Auffassung an vertrauten Sujets zu erproben oder erliegen Sie sporadisch der Faszination für bestimmte Darstellungsformen der Natur?

MM: Stimmt das? Male ich immer das Gleiche? Vielleicht kann man meine Werke in verschiedene Bildräume unterteilen, die mich immer wieder interessieren. Ich betrachte einen Wald grundsätzlich als einen anderen Bildraum als z. B. ein Interieur oder eine Wasserfläche. Mir sind bei den verschiedenen Bildfolgen deren zugrundeliegenden Muster wichtig. Bei einem Wald sind es die parallel verlaufenden Linien während es bei einer Wasseroberfläche oder einer Sumpffläche der nach unten gerichtete Blick ist. Bei Interieurs oder Stadtfluchten ist es dagegen der durch wenige Linien definierte perspektivische Raum eines Bildes. Deswegen greife ich diese Grundmuster des Bildaufbaus immer wieder in neuen malerischen Umsetzungen auf. Dabei kann es schon sein, dass sich die Darstellungsformen dieser Naturmotive mit der Zeit immer mehr von einer realistischen Wiedergabe wegentwickeln. Ich setzt mir in dieser Richtung aber kein Ziel, da ich mich nur von meinen Bildern leiten lasse.

JS: Jede Abbildung einer wirklich existierender oder fiktiver Landschaften ist Ergebnis einer individuellen Aneignung. Subjektive Eindrücke zwischen Unbehagen und Begeisterung hinterlassen deutliche oder nur unterschwellig nachvollziehbare Spuren in einem Werk. Ihre Gemälde fixieren Selbstverständliches sachlich und emotional zurückhaltend. Wie würden Sie die Besonderheit Ihrer Landschaften beschreiben?

MM: Die Besonderheit meiner Landschaften besteht in ihrem Eigenleben. Sie sind für mich ein unabhängiges Stück Natur mit zufälligen Form- und Farbkompositionen, wie wir sie auch aus der realen Natur kennen. Das bedeutet jetzt nicht, dass die Komposition im Bild völlig willkürlich ist, sondern nur, dass ich dem Bild ermögliche, seine Gestaltung durch zufällige Farbverläufe selbst zu beeinflussen. Im Vergleich mit romantischen oder impressionistischen Naturdarstellungen hat der Betrachter des Bildes keinen fest definierten Standpunkt in der imaginären Landschaft. Auch das unterstreicht die Unabhängigkeit des Gemäldes. Im übertragenden Sinne befinden sich meine Bilder ‚zwischen‘ dem Betrachter und dem gemalten Motiv. Ähnlich wie eine Erinnerung.

JS: Als „aquarellartig“[2] wird verschiedentlich Ihre Technik charakterisiert. Sie tragen die Ölfarbe verdünnt auf, sodass Malschichten sich transparent überlagern und das Motiv „verschleiern“[3]. Ähnlich wie die Verwischungen gewisser Bildpartien trägt diese Technik, welche die materielle Komponente der Farbe – ihre Dünnflüssigkeit und zugleich Schwere – thematisiert, dazu bei, die Harmonie der Darstellung infrage zu stellen, ohne deren Ausgewogenheit zu gefährden. Wann entschieden Sie sich, diese technischen Effekte anzuwenden?

MM: Das ist lange her. Vielleicht ist mir der Zugang zu diesem dünnflüssigen Farbauftrag vor allem durch meine früheren Acrylarbeiten leichter gefallen, in denen ich die Farbe reichlich mit Wasser verdünnt habe. Irgendwann habe ich zunächst die Farbe – wie in der klassischen Aquarellmalerei üblich – auf dem Papier auf dem Tisch verlaufen lassen. Später bin ich dann dazu übergangen, das Bild an die Wand zu hängen und die Farbe an der Wand verlaufen zu lassen, um die Dynamik der Farbverläufe zu verstärken. Ich habe diese Technik dann weiter verfolgt, weil ich immer das Gefühl hatte, dass ein sich ‚bewegendes‘ Bild auf der Leinwand spannender ist. Ich war einfach von der Eigendynamik dieser zerlaufenden Bilder fasziniert. Es gab so häufig Momente, in denen das Bild mir viel besser vorkam, als ich es ursprünglich gemalt hatte. Vielleicht hängt das mit der selbstverständlichen Schönheit natürlicher Formen zusammen.

JS: Die Atmosphäre der Farbe beeinflusst die Stimmung von Bildern. Wenn Sie also gelegentlich nahezu auf Buntwerte verzichten und sich auf changierende Grautöne beschränken, wenden sie mitunter eine auf den ersten Blick trivial erscheinende Szene ins Rätselhafte oder ins Phantastisch-Zeitlose. Manche Gemälde mit ihren Spiegelungen und Ansichten aus der Unterwasserperspektive entführen uns in Gefilde, um deren Existenz wir wissen oder die wir erahnen, welche uns jedoch künstlerisch verfremdet als irreal oder romantisch erscheinen. Entspricht eine solche Wahrnehmung Ihrer Intention oder ist sie das Resultat von zufälligen Konstellationen im Verlauf der Bildgestaltung?

MM: Ich habe insbesondere die Unterwassermotive schon ausgewählt, weil sie dem Betrachter recht unvertraut sind und hier viel Spielraum zur Interpretation bleibt. Die Unterwasserwelt ist eine relativ undefinierte Motivwelt. Das bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass meine Bilder romantisch oder irreal erscheinen sollen, sondern vielmehr geht es darum, kompositorische Elemente in den Vordergrund zu rücken. Ein inhaltlich zu stark aufgeladenes Motiv lenkt davon eher ab. In der letzten Zeit habe ich vermehrt Motive aus der Natur aufgenommen, weil es hier an und für sich für den Betrachter mehr interpretatorischen Freiraum gibt als bei vom Menschen gemachten Dingen. Selbst so banale Gegenstände wie beispielsweise Einkaufstüten oder Heizungsthermostate sind demgegenüber nie wertfrei und im Gegensatz zu Naturdarstellungen inhaltlich viel zu sehr in eine Richtung festgelegt, um für mich als Motiv infrage zu kommen.

JS: Die Darstellung des Menschen, eines der dominierenden Themen in der figurativen Malerei seit den 1960er Jahren, spielt in Ihrem Schaffen eine untergeordnete Rolle. Silhouettenhaft gezeigt wie auf Ihren Städtebildern erscheint sie allenfalls peripher. Bei den großformatigen Gemälden des Maha-Kumbh-Mela-Zyklus ist sie dagegen inhaltlich unverzichtbar, jedoch sehen Sie auch hier von detaillierten Schilderungen ab und reduzieren die Gestalten auf in Farbströme eingearbeitete skizzenhafte Notationen.

MM: Meine Figuren schweben wohl tatsächlich ein wenig giacomettihaft als schmale Schatten durch die Bilder. Das ist mir auch ganz recht, weil es mir nie um eine individuelle Darstellung meiner Figuren gegangen ist, sondern mehr um die Darstellung des Menschen als lebendiges Element im Bild. So lasse ich sie sich gerne in meinen Stadtlandschaften versammeln zu vibrierenden, organischen Formationen, die im Kontrast zu den starren, linearen Strukturen der Architektur in ihrer Umgebung stehen. Genau den gleichen Effekt habe ich allerdings auch schon durch die Kombination von Pflanzen und Architektur erzielt, z. B. bei der Serie Crystal Palace aus dem Jahr 2002. In den Maha-Kumbh-Mela-Bildern erkennt man dagegen eigentlich nur noch Menschen, die Architektur als Gegenpol ist verschwunden. Hier reicht es nicht mehr, den Menschen nur als Zitat für organisches Leben zu sehen. Die Bedeutung der Menschenmasse steigt und wird zum hier zum Hauptthema.

JS: Der erwähnte Maha- Kumbh -Mela-Zyklus gibt Ihnen Gelegenheit, mobile Szenerien zu entwerfen, die im Gegensatz zu früheren Bildern stehen, deren verhaltene innere Dynamik vorwiegend malerischen Interventionen zu danken ist. Wie fanden Sie zu diesem Thema und welche Idee steht hinter seiner Umsetzung?

MM: Als ich auf das Maha-Kumbh-Mela-Fest aus dem Jahr 2001 aufmerksam wurde, war ich sofort fasziniert von der endlosen, aus menschlichen Körpern geformten Landschaft aus fünf Millionen Pilgern. Natürlich muss ich so etwas malen, dachte ich mir. Obwohl ich zu dieser Zeit eigentlich an einem ganz anderen Thema arbeitete. So geisterte Maha Kumbh Mela bis zum Jahr 2007 nur in meinem Kopf weiter herum, da ich nie so genau wusste, wie sich ein solches Thema realisieren lassen könnte. Mir haben gewissermaßen die technischen Mittel gefehlt. Erst über den Umweg der Wasserpflanzenbilder habe ich mich imstande gesehen, die Masse von Menschen im Fluss zu malen. Da es sich aber nun um Menschen handelt, funktioniert der Vergleich mit den Wasserpflanzen natürlich nur bedingt. Ich bin fasziniert von der Motivation von Millionen Menschen, die sich zur selben Zeit am selben Ort einfinden, um ihre Seele zu reinigen und dafür alle erdenklichen Strapazen auf sich nehmen. Obwohl ich als Europäer selbst nicht in der Tradition dieses Hindufestes verankert bin, haben mich die Bilder dieser Menschenansammlungen doch sehr an alte europäische Schlachtengemälde erinnert.

JS: In gewisser Weise forcierten Sie den Grad der Gegenstandslosigkeit im Bild im Anschluss an den Indien-Zyklus konsequent und finden so zu den Waterpaintings und Lakes, Serien, bei denen Sie sich mit der Darstellung eines Elementes, des Wassers, befassen, welches die Landschaft formt und prägt. Eine formale Reduktion geht mit der Aktivierung der Farbigkeit, bzw. deren entschlossener partieller Rücknahme einher. Auch die Wahl des Bildausschnittes intensiviert das abstrahierende Moment.

MM: Tatsächlich ist der Gegenstand in den Waterpaintings kaum noch zu erahnen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es sich hier um eine formale Reduktion handelt, denn durch die Rücknahme auf der einen Seite öffnen sich auf der anderen Seite neue Möglichkeiten im Bild. Gerade bei den Waterpaintings ist nach mehrmaligem Entfernen und Übermalen bereits ausformulierter realistischer Bildräume eine Oberfläche entstanden, die scheinbar unbegrenzt in die Tiefe blicken lässt.

JS: Im Zusammenwirken knapper, mit Empfinden für die Nuance positionierter Chiffren entwickeln sich impressionistisch-abstrakte Trugbilder, einerseits sensualistisch, andererseits entschieden strukturiert, als – wie Ernst Ludwig Kirchner im Hinblick auf eigene Bilder ganz anderer Art schrieb „selbstständige Organismen aus Linien, Flächen und Farben, die Naturformen nur soweit enthalten, als sie zum Verständnis nötig sind.“[4] Kann man vermuten, dass diese prononciert gesetzten Akzente sich in künftigen Werken noch weiter zu autonomen Formationen verselbstständigen und den realistischen Bildgehalt zurückdrängen werden?

MM: Es ist ja nicht so, dass ich nicht etwas Bestimmtes malen möchte, wenn ich mit einem Bild beginne. Egal wie abstrakt und weit entfernt es vom ursprünglichen Bildmotiv am Ende auch sein mag, habe ich doch immer noch das Gefühl, etwas Realistisches gemalt zu haben. Es ist für mich nicht interessant, den anderen Weg einzuschlagen und z. B. direkt mit abstrakten Farbverläufen ein Bild zu beginnen. Wahrscheinlich ist es auch schwierig, die künstlerische Weiterentwicklung vorauszusagen, aber auf jeden Fall bin ich sehr an ihr interessiert. Es ist ja letztendlich auch schwierig zwischen abstrakt und realistisch zu unterscheiden. Ich bin mir im Grunde nicht einmal sicher, ob es überhaupt abstrakte Bilder gibt. Abstraktion bedeutet ja nichts anderes als Reduktion. Jedes Bild hat einen Gegenstand, auch wenn es nur das Licht ist, oder eine Jahreszeit. Kirchner kann ich nur beipflichten, die Frage ist natürlich, wie weit die Reduktion der Naturform im Bild gehen kann. Denn selbst in einem Bild von Mark Rothko lässt sich noch eine Landschaft sehen.


 

[1] Vgl. Sven Drühl, „Matthias Meyer“, in: Matthias Meyer, Ausstellungskatalog Galerie Hof & Huyser, Amsterdam 1999, o. S

[2] Vgl. Claudia Rahn, „Matthias Meyer – Bilder der Bewegung“, in: Matthias Meyer, Ausstellungskatalog Galerie Robert Drees, Hannover 2003, o. S.

[3] Vgl. Oliver Zybok, „Die Infragestellung des Sichtbaren“, in: Matthias Meyer, Ausstellungskatalog Galerie Jürgen Kalthoff, Essen 2002, o. S.

[4] Ernst Ludwig Kirchner, „Leben und Arbeit“, in: Das Werk, Schweizer Monatsschrift für Architektur, freie Kunst, angewandte Kunst, Jg. XVII, 1930, Heft 1; vgl. Ernst Ludwig Kirchner 1880−1938, Ausstellungskatalog Nationalgalerie Berlin SMPK u. a. , Berlin 1980, S. 9.

Dr. Jürgen Schilling, Kunsthistoriker, Berlin.

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